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Klaus Gottheiner: Aufbruch in enzyklopädigitale Welten (Unijournal 4 / 2001, S. 39-40)

Die Digitalisierung einer 242bändigen Mammut-Enzyklopädie, verbunden mit dem Aufbau eines Digitalisierungszentrums für die Geisteswissenschaften an der Universität Trier - dieses ehrgeizige Projekt, beantragt von der Universitätsbibliothek mit Unterstützung und Beratung von Seiten des Kompetenzzentrums "Elektronische Erschließungsverfahren", ist im August 2001 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt und in ihr Förderprogramm "Verteilte digitale Forschungsbibliothek" aufgenommen worden: ein weiterer Beitrag zu einer in Trier mittlerweile etablierten Tradition der Volltextdigitalisierung von Bibliotheksbeständen.

Auf den Meßtischblättern der Wissenslandschaften stößt der Betrachter neben minutiös kartierten Regionen immer wieder auf ausgedehnte Leerstellen, den weißen Flecken achselzuckender Geometer vergleichbar: Hic sunt leones. Besonders häufig ist das - trotz Internet und digitalen Bibliotheken - auf dem Territorium der elektronischen Information der Fall, Sektion Geisteswissenschaften. So sind entscheidende Quellenwerke der historischen Wissenschaften oft entweder ausgesprochen schwer zugänglich, oder aber sie bergen verschüttete Nutzungspotentiale, die erst die Möglichkeiten der elektronischen Medien in vollem Umfang freilegen würden. Beide Kriterien treffen gleichermaßen auf den Gegenstand des bislang umfangreichsten Projekts der UB Trier zu, das je von der DFG genehmigt wurde: nichts Geringeres als die Überführung des "Krünitz", der monumentalsten Enzyklopädie deutscher Sprache, in elektronische Form.

Die 1773 von dem Berliner Arzt Johann Georg Krünitz (1728-1796) zunächst als Übersetzung eines französischen Werkes begonnene "Oeconomisch-technologische Encyclopädie" ist die sicherlich wichtigste (und zugleich wohl am unzureichendsten erschlossene) deutschsprachige Quelle zur Wirtschafts-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie ist ein Sammelbecken der zeitgenössischen Ideen zu ökonomischen und naturwissenschaftlichen Fragen und zugleich ein Kompendium des technologischen Entwicklungsstands ihrer Entstehungszeit, und dies in wahrhaft stupender Ausführlichkeit und Vollständigkeit: als Krünitz 1796 ausgerechnet bei der Bearbeitung des Artikels "Leiche" im 72. Band starb, war erst ein Drittel des monumentalen Werkes beendet, das sich schließlich auf 242 Bände mit 10.000 Kupferstichen und Lithographien ausweiten und erst 1858 beendet werden sollte - "one of the largest works of its kind ever issued", wie es der Enzyklopädiehistoriker Robert L. Collison 1966 feststellte. Seine elektronische Umsetzung steht in einer Reihe mit weiteren Enzyklopädie-Projekten wie der Digitalisierung der Diderotschen "Encyclopèdie" an der University of Chicago und füllt, ähnlich wie sie, eine bedeutende Lücke in der Erschließung der historischen Grundlagen der Moderne.

Die neue Digitalisierungsinitiative der Bibliothek operiert - weiße Flecken hin oder her - in keiner terra incognita, sondern auf einem informationsstrategisch sehr genau definierten Terrain. Seit 1997 unterstützt die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen ihres Förderprogramms "Verteilte Digitale Forschungsbibliothek" Projekte auf dem Gebiet der retrospektiven Digitalisierung von Bibliotheksbeständen mit dem Ziel, entlegenes Material oder häufig be-nutzte Grundlagenwerke elektronisch verfügbar zu machen. An der Universität Trier gibt es bereits seit längerer Zeit eine Reihe DFG-geförderter Unternehmungen dieser Art, darunter die von Prof. Gärtner (Ältere deutsche Philologie) geleitete Digitalisierung des Grimmschen Wörterbuchs, mehrerer mittelhochdeutscher Wörterbücher und weiteren Materials, die auch in ihrer technischen Konzeption für die Gestaltung künftiger Trierer Digitalisierungsprojekte richtungweisend ist. Seit 1998 besteht an der Universität zudem ein Kompetenzzentrum "E-lektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften" als Dachorganisation entsprechender Anstrengungen in den Fächern.

Langfristig dürfte eine personelle und organisatorische Kontinuität solcher Mammut-Projekte freilich am besten durch die Anbindung an eine zentrale Einrichtung der Universität gewährleistet sein. Die UB wäre auf eine solche Aufgabe nicht ganz unvorbereitet: bereits vor einigen Jahren hat man dort mit der Schaffung einer Abteilung für "Digitale Medien" den neuen Aufgaben im Bibliothekswesen - elektronische Informationsvermittlung, Digitalisierung und elektronisches Publizieren - Rechnung getragen. Noch bedarf es jedoch der intensiveren Heranbildung einschlägiger Mitarbeiterkompetenz, die sich nirgends besser erwerben läßt als eben im Zuge der Durchführung eines umfangreichen Digitalisierungsunternehmens der geschilderten Art. Die DFG hat sich dieser Meinung uneingeschränkt angeschlossen und den Antrag der UB auf Förderung des Projekts "Retrodigitalisierung der ‚Oeconomischen Encyc-lopädie’ von Johann G. Krünitz und Aufbau eines Digitalisierungszentrums für die Geisteswissenschaften" ohne Abstriche - was selten genug vorkommt - bewilligt.

Das "Krünitz-Projekt", über dessen Ablauf, Stand und weitere Details die Homepage www.kruenitz.uni-trier.de fortlaufend informiert, geht bewußt einen Weg, der sich bereits in den genannten Projekten der Germanistik bewährt hat. Die manuelle Erfassung des Textes wird in Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum "Elektronische Erschließungsverfahren" an eine Spezialfirma in China vergeben, mit nachfolgender Fehlerkontrolle durch automatischen Textvergleich in Trier. Diese Methode erlaubt eine praktisch hundertprozentige Erfassungsgenauigkeit und ist dem Scannen mit anschließender OCR-Bearbeitung (die vor Frakturschrift weitgehend kapitulieren muß) deutlich überlegen. Eine SGML/XML-Auszeichnung des Textes unter Nutzung der vielfältigen Möglichkeiten des in unterschiedlichen Trierer Projekten eingesetzten TUSTEP-Programms - die Hauptarbeit des Projekts - sichert die langfristige, plattformunabhängige Datenhaltung und ermöglicht das Erstellen umfangreicher Indices und Verweislisten. Über die reine Textbearbeitung hinaus geht ferner die eingehende Erschließung der von Krünitz benutzten und zitierten Quellen. Eine eigens realisierte Schnittstelle soll dann die Recherche sowohl in der Enzyklopädie als auch in elektronischen Quellen wie etwa z.B. bibliographischen Verzeichnissen ermöglichen. Am Ende dieser Arbeitsschritte wird die Präsentation im WWW und die Publikation als CD-ROM stehen, ausgestattet mit Recherchefunktionen, die dank der Intensität der vorgesehenen strukturellen Aufarbeitung und Auszeichnung weit über die Möglichkeiten einer herkömmlichen Volltextrecherche hinausgehen werden. Doch das auf zwei Jahre berechnete Projekt ist erst ein Anfang: Die Akkumulation von Know-how, die Arbeit am "Krünitz" notwendig mit sich bringt, wird das Fundament bilden, auf dem die UB ihren spezifischen Beitrag zu einer universitätsweiten Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Digitalisierung leisten kann.